„Unsere Demokratie ist auf der Entwicklungsskala von eins bis zehn jetzt auf Stufe sechs.“

Als Vorstandssprecherin von ‚Mehr Demokratie“ ist Claudine Nierth Deutschlands Chef-Lobbyistin für Beteiligungsrechte in der Demokratie. Mit dem Digitalschwein spricht sie über die Ursachen unser gesellschaftlichen Kommunikationsprobleme, warum für die Demokratie menschliche Nähe wichtiger ist als inhaltliche Nähe und welche Länder für die Weiterentwicklung unserer Demokratie als Vorbild taugen.

Frau Nierth, Sie machen sich mit „Mehr Demokratie“ für die Demokratie stark. Gleichzeitig wird in diesen Tagen überall das Loblied auf die Demokratie gesungen. Rennen Sie offene Türen ein?

Es geht uns nicht um Demokratie ‚Ja oder Nein‘, sondern darum, wie wir Demokratie praktisch ausgestalten, leben und weiter ausbauen. Demokratie ist ja eigentlich unsichtbar: Wir können sie nicht sehen, nicht riechen, nicht schmecken – und trotzdem ist sie da. Aber Demokratie ist erst wirklich da, wenn wir Menschen die Demokratie leben, erleben, also demokratisch teilhaben. Nur Parteien alle vier Jahre in Parlamente wählen zu können ist meines Erachtens zu wenig. Und es wird schwieriger, wer kann sich heute schon zu 100 Prozent mit einer Partei identifizieren? Demokratie für Fortgeschrittene bedeutet, dass wir uns stärker auch bei konkreten Sachthemen und Inhalten einbringen können.

Politische Teilhabe – wie kann das konkret funktionieren bei 80 Millionen Menschen und 80 Millionen Meinungen?

Also wählen können die Bürger ja schon. Zusätzlich gibt es schon einige Formate wie etwa Bürgerentscheide und Bürgerbegehren in den Kommunen oder die Volksbegehren und Volksentscheide auf Landesebene. Aber wir brauchen zusätzlich auch mehr Teilhabe auf Bundesebene zum Beispiel neben den Wahlen durch Referenden. Tatsächlich sind wir das einzige Land in der EU, das keine nationalen Volksabstimmungen vorsieht.

Ein anderes Beispiel sind die Bürgerräte, die der Bundestag gerade neu erprobt. Durch die Beteiligung der Bürger an großen Reformen und Veränderungen wird Politik einfach besser. Die Fehler beim Heizungsgesetz wären vermutlich nicht so passiert, wenn man die Pläne vorher mit einem Bürgerrat diskutiert hätte. Dann wäre wohl herausgekommen, dass eine Reihe von wichtigen Aspekten übersehen oder unterschätzt wurde. Und vor allem hätte man die Menschen in den Lösungsprozess integriert. Die verschiedenen Perspektiven der Menschen zu berücksichtigen, das wäre bei allen großen gesellschaftlichen Themen sinnvoll, bei Rente, Migration, Mindestlohn, Bürgergeld. Wir glauben immer noch, dass einige wenige Experten die besten Lösungen für alle erarbeiten können. Es ist aber umgekehrt. Die Vielfalt von Perspektiven in der Demokratie einfließen zu lassen, das wäre ein Garant für Qualität.

Also mehr Vielfalt statt mehr Expertentum im demokratischen Entscheidungsprozess?

Absolut. Eine Aufgabe der Demokratie ist es, den Platz des Königs leer zu lassen. Das gilt auch für Experten. Sie sind nicht die ernannten Könige. Politik hat eine ganz andere Akzeptanz, wenn die Menschen sich gehört fühlen und die Blickpunkte aller Menschen einbezogen werden. Wir nähern uns den komplexen Problemen von heute viel besser, wenn die Sichtweise möglichst vieler Menschen mit einfließt. Auch der schlauste Politiker kann nicht wissen, was Lieschen Müller und Gerd Petersen weiß. Da merkt man schnell: Die Gemeinschaft, die Intelligenz der Gesellschaft, die ist viel klüger als ich allein. Dieses kollektive Wissen sollten wir mehr einbeziehen, regelrecht einsammeln, um es zu nutzen.

Teilhabe ist für Sie ein zentraler Begriff. Sind die meisten Menschen denn nicht einfach zu bequem und wollen gar nicht wirklich teilhaben?

Die meisten Bürger erleben sich ohnmächtig am Spielfeldrand. Das ist wie beim Fußball. Auf dem Sofa bin ich immer der beste Spieler und denke, warum kriegt der Depp den Ball nicht ins Tor? Aber in dem Moment, in dem der Trainer mich vom Sofa aufs Spielfeld holt, bin ich in der Verantwortung. Dann merke ich „Boah, so einfach ist es gar nicht“. Dann bin ich mittendrin und kann mich mit dem Spiel ganz anders identifizieren, als wenn ich vom Sofa aus nur zuschaue und alles besser weiß. In diesem Sinne wollen wir dafür sorgen, dass alle einen Zugang zum Spielfeld bekommen, die es möchten. Und wer dann immer noch auf dem Sofa bleiben will – auch gut. Dann aber bitte nicht so laut meckern.

Und wer holt mich vom Sofa auf Spielfeld, solange uns die Politik keine geeigneten Zugänge liefert?

Im lokalen Bereich, in der Gemeinde halte ich sehr viel davon, dass man die Menschen ganz direkt anspricht. „Wir brauchen dich. Wir haben hier das Problem XY und du kannst dabei helfen, dieses Problem anzupacken. Los geht’s.“  Das ist gar nicht so illusorisch. Ich glaube, in Nordrhein-Westfalen setzt sich fast die Hälfte der Bevölkerung ehrenamtlich ein. Im ehrenamtlichen Bereich gibt es viele Zugänge, auch bei „Mehr Demokratie“ haben wir weit mehr als 10.000 Mitglieder und 160.000 Freunde, die sich mitengagieren.

Als deren Vorstandssprecherin sind Sie also hauptberufliche Demokratie-Lobbyistin?

In erster Linie bin ich eigentlich Lobbyistin für die Menschen und ihre Beteiligungsrechte in der Demokratie. Demokratie ist für mich das Versprechen der größtmöglichen Zufriedenheit aller Menschen. Durch alle, für alle. Aber solange die Zufriedenheit aller noch unerreicht ist, müssen wir uns fragen, wie wir die Demokratie demokratisieren, damit die Menschen zufriedener werden. Solange die Demokratie unsere Erwartungen an sie nicht erfüllt, entwickeln wir sie weiter. Heute ist unsere Demokratie 75 Jahre alt. In der Wirtschaft könnten Sie heute nicht überleben, wenn Ihr Unternehmen mit einem 75 Jahre alten Betriebssystem arbeitet. Demokratie ist ja keine technische Erfindung, sondern befindet sich immer auf einer Entwicklungsskala. Unsere Demokratie in Deutschland ist jetzt auf der Entwicklungsskala von eins bis zehn vielleicht auf Stufe sechs. Die Frage ist doch jetzt, wie kommen wir auf Stufe sieben oder acht? Auch die Demokratie muss sich mit der Zeit und unseren Bedürfnissen entwickeln. Darum geht es uns.

Die Demokratie zu entwickeln – wäre das nicht Aufgabe der Parteien?

Der Fokus der Politik liegt auf dem Alltagsgeschäft, und das ist in diesen Tagen ja schon anspruchsvoll genug. Politik ist da leider viel zu beschäftigt mit sich selbst. Aber auch zu sehr eigenommen von sich selbst. „Wir sind gewählt, also haben wir auch die Macht, basta!“ Ist keine Seltenheit, dass wir das hören. Diese Macht mit den Bürgern zu teilen kommt der Politik nicht in den Sinn. Weswegen Gesetze für mehr Teilhabe es in der Regel schwer haben. Immerhin wurden schon rund ein Dutzend Gesetzentwürfe zu bundesweiten Volksentscheiden in den Bundestag eingebracht. Sie wurden alle abgelehnt. Einmal, im Jahr 2002, gab es immerhin eine Mehrheit, aber eben keine Zweidrittelmehrheit, die erforderlich gewesen wäre um unser Grundgesetz um Volksabstimmungen zu ergänzen. Auch die jetzt erprobten Bürgerräte müssen die Politik noch überzeugen, bevor sie etabliert werden.

Wenn man den Status Quo der Demokratie hinterfragt, wird man dann nicht schnell in die Schublade des „Demokratiefeindes“ gesteckt?

Wenn man ein Haus ausbaut oder durch einen Anbau erweitert, zerstört man es dann? Ist man ein „Hausfeind“? Nur an dem bestehenden unverändert festzuhalten, um es zu bewahren, kann auch zum Gegenteil führen. Ich würde es eher umdrehen: Wer heute nicht sieht, dass das Haus der Demokratie ein paar neuer Säulen bedarf, der verkennt in welcher Gefahr die Demokratie gerade ist. Und ich kenne auch viele Politiker, die sehr unzufrieden sind mit den Gesetzgebungsvorgängen oder mit der parlamentarischen Arbeit. Aber die kommen überhaupt nicht dazu, sich darüber Gedanken zu machen, wie man es ändern könnte.

 Wenn Sie sagen, wir sind auf der Entwicklungsskala der Demokratie vielleicht auf Stufe sechs von zehn – welche Länder sind denn weiter?

Die Demokratie-Zufriedenheit und das demokratische Bewusstsein in der Schweiz sind deutlich höher als bei uns. Die Menschen nehmen dort viermal im Jahr an einer Volksabstimmung teil, die sie selbst initiieren können. Können Sie mir drei Politiker aus der Schweiz nennen? Nein, aber dafür kennen wir wichtige Themen, zu denen die Schweizer befragt wurden. In der Schweiz geht es mehr um die Sache als um die Macht. Gemessen am demokratischen Wohlbefinden der Schweizer und ihrem Selbstbewusstsein als Souverän das letzte Wort zu haben, würde ich die Schweiz auf meiner Skala bei Stufe acht sehen.

 Gibt es weitere Demokratien in Europa, an denen wir uns orientieren könnten?

Als Vorbild für Deutschland kommt mir insbesondere Irland in den Sinn. In Irland gibt es ein starkes Parlament, das sich immer wieder in heiklen Fragen von einem extra einberufenen Bürgerrat beraten lässt und sich jede Änderung der Verfassung durch ein Referendum absegnen lässt. Das ist ein idealer Dreiklang von Parlamentarismus, Bürgerräten und Referenden.  Stellen Sie sich mal vor, wir hätten in Deutschland über jede Änderung im Grundgesetz abgestimmt. Der ehemalige irische Premierminister Enda Kenny nannte die Verfassung „unser gemeinsames Buch“. Das ist die Basis des irischen Zusammenhalts, weil jeder Ire an dieser Verfassung durch die Referenden immer mitschreibt. Das ermöglicht eine sehr hohe Identifikation der Bürger mit „ihrer“ Verfassung. Von Irland kann Deutschland lernen. Um spielerisch im Bild zu bleiben, wären wir dann auf Stufe sieben.

 Also ab morgen Volksabstimmungen über Grundgesetzänderungen?

Das wäre ein erster Schritt! Wir würden dann auch mehr mitkriegen, wie oft unser Grundgesetz geändert wird. Momentan befürchten doch viele, die Demokratie, das Grundgesetz sei in Gefahr, weil es von den Falschen gekapert werden könnte. Dann würde ich vorschlagen: Lasst uns doch das Grundgesetz dadurch schützen, dass wir Verfassungsänderungen an Volksabstimmungen koppeln, etwa mit einer Zweidrittelmehrheit. Eine größere Sicherheit für das Grundgesetz kann ich mir kaum vorstellen.

Sie sprachen über die große Zustimmung zur Demokratie über quasi alle Parteien hinweg. Trotzdem sehen wir diese große gesellschaftliche Zerrissenheit. Wie kann das sein?

Momentan haben wir ein riesiges Problem mit der Kultur unserer Demokratie. Egal welches Thema, wir neigen zu Polarisierung und Spaltung. Insbesondere Corona mit all seinen Begleitumständen war ein Katalysator dafür, dass noch mehr Menschen als zuvor den Institutionen, der Regierung, den Medien misstrauen. Und diese Polarisierung ist gefährlich, denn jede Seite behauptet, auf der richtigen Seite der Argumente zu stehen – und die jeweils anderen auf der falschen Seite. Das wird dann zu einem Problem, wenn die Seiten einander von der Demokratie ausschließen wollen, weil sie sich gegenseitig zur Gefahr erklären. Wir müssen uns die Frage stellen: Kann die Demokratie es sich leisten irgendjemanden auszuschließen?

Wir haben ein enormes Kommunikationsproblem – das sehen wir beim Digitalschwein genauso. Welchen Ansatz verfolgen Sie bei diesem Thema?

Wir haben vor allem das Problem, dass die Menschen nicht mehr miteinander reden wollen. Wir haben dafür ein neues Format entwickelt, es heißt ‚Sprechen & Zuhören‘. Wir bieten das öffentlich jeden ersten Mittwoch im Monat online an. Aber auch direkt vor Ort. Wir gehen in Dörfer und Gemeinden, wo die Menschen einander verloren haben und verstummt sind. Entweder laden uns Bürger ein, Bürgermeister oder Vereine

Dann wird möglichst breit im Dorf eingeladen und wir treffen uns im Gemeindesaal für einen Abend. Jeder ist willkommen. Immer zu einem vorher angekündigten Thema, das den Leuten unter den Nägeln brennt, zum Beispiel Wendeerfahrungen, Rechtspopulismus, Pandemie oder Migration. Wir stellen nur eine einzige Frage an diesem Abend: „Wie geht es Dir mit diesem Thema?“ Wir haben drei Stunden in Vierergruppen, die wir zu Beginn des Abends bilden. Jeder in diesen Gruppen spricht vier Minuten nur über seine persönlichen Gefühle und Befindlichkeiten in Bezug auf das Thema. Und die anderen drei hören zu. Ohne zu unterbrechen, zu kommentieren oder zu widersprechen – das ist die Regel. Und dann kommt der nächste dran und spricht. Und der nächste. Und jeder weiß, dass er nicht unterbrochen wird, dass nicht dagegen argumentiert wird. Diese Zuhör-Runden machen wir genau dreimal, jeweils zur selben Frage. Am Ende tragen wir zusammen, was jeder mit sich selbst erlebt hat. Was hat ihn bewegt? Der übliche rationale Diskurs findet hier nicht statt.

Interessantes Format. Wie sind Ihre Erfahrungen damit bislang?

Erstaunlich gut! Die Menschen atmen auf und sagen zum Beispiel: „Endlich mal wieder ein zivilisiertes Gespräch!“ Da passiert eine bewusst verlangsamte Kommunikation, vertieft und sensibel. Die Menschen sprechen nur über sich und nicht die anderen. Die emotionale Seite von Konflikten kann sich zeigen und Teilnehmende erleben dieser Dialoge oft als Erleichterung. Meine Erfahrung ist, dass die meisten Menschen eine große Sehnsucht nach Gemeinschaft und nach Zukunft haben. Und es stärkt die Demokratie – wenn ich nicht die eigene Meinung durchsetzen muss, sondern wenn sie Gehör findet und sich zu den anderen Meinungen in Bezug setzt. Niemand kann unsere Meinung ändern. Das können wir nur selbst. Dazu gehört auch, die eigene Position zu vertiefen, zu verändern oder manchmal sogar aufzugeben.

Demokraten sind also Zuhörer, keine Kämpfer?

Demokratie bedeutet für mich nicht den Kampf gegen die anderen zu gewinnen, sondern die Kooperation mit den anderen zu suchen. Nicht die Dominanz über die Minderheit ist erstrebenswert, sondern Einigung miteinander. Wer heute die Demokratie stärken will, kann sich jeden Tag einmal in die Schuhe eines anderen Menschen stellen und sich fragen: „Was sind die Sorgen, Hoffnungen und Enttäuschungen dieses Menschen?“ Wenn wir das eine Weile betreiben, werden wir eine Veränderung bei uns selbst merken. Erstens sehen wir wieder viel mehr die anderen. Zweitens merken wir, dass wir großzügiger und flexibler in unseren eigenen Haltungen werden. Wir stärken die Demokratie, indem wir die menschliche, nicht die Inhaltliche Nähe zu den anderen Menschen suchen. Demokratie ist eine Frage der Beziehung untereinander. Wir können Meinungen und Positionen kritisieren, wir können sie sogar verachten – aber wir können nicht die Menschen verachten. Ich kann eine Haltung unmöglich finden. Aber ich kann fragen: Warum haben Sie die denn? Welche Enttäuschungen haben Sie erlebt? Welche Hoffnungen hatten Sie? Und dann merke ich, dass ich menschlich viel näher rücke, auch wenn ich es inhaltlich anders sehe. Und das ist eine demokratische Qualität, die momentan unter die Räder gerät.

Diese respektvolle Kommunikation scheint den Menschen im digitalen Raum schwerer zu fallen als im „echten“ Leben. Auch deshalb gibt es ja das Digitalschwein. Warum ist das Netz so oft ein destruktiver, negativer Debattenschauplatz?

Weil die Menschen einander nicht in die Augen schauen. Je distanzierter die Menschen miteinander kommunizieren, desto hemmungsloser sind sie. Am Steuer im Auto und vor der Tastatur werden wir gern zu Wutbürgern. Aber wenn die Menschen zusammen in einem Raum sitzen und miteinander sprechen, ändert sich in der Regel sofort der Stil, die Haltung. In den Bürgerräten, die wir begleitet haben, gab es diese Ausfälle und menschlichen Verfehlungen nicht, und wir hatten immer die gesamte Bandbreite der Gesellschaft dabei. Die sind immer sehr respektvoll miteinander umgegangen, auch wenn sie völlig unterschiedlicher Meinung waren. In diesem Sinne wünsche ich mir eine Demokratie des Aufeinanderzugehens, des Zuwendens und des Nachfragens. Wer gefragt wird, der wendet sich nicht ab.

 

Foto: Burgis Wehry