Wer jetzt nicht beunruhigt ist, dem ist kaum noch zu helfen

Jürgen Wiebicke ist Journalist, Philosoph, Autor. In seinem jüngsten Buch, „Erste Hilfe für Demokratie-Retter“, erklärt er wie wir alle – die Zivilgesellschaft – das Haus der Demokratie in unruhigen Zeiten sturmfest machen können. Wir haben mit ihm gesprochen.

Herr Wiebicke, noch im Frühjahr gab es ein Hochgefühl unter Demokratiefreunden, als Hunderttausende für eine freiheitliche Gesellschaft ohne Extremismus auf die Straßen gegangen sind.  Jetzt wurde in Thüringen erstmals eine rechtsextreme Partei stärkste Kraft in einem Bundesland. Ist das eine historische Zäsur, die Demokraten beunruhigen sollte? Oder einfach eine demokratische Wahl mit Denkzettel-Charakter?

Sagen wir so: Wer jetzt nicht beunruhigt ist, dem ist kaum noch zu helfen. Wir haben bei diesen Wahlen einen massiven Vertrauensverlust erlebt, der noch gefährlicher werden kann und von dem alle bislang tragenden Kräfte der Parteiendemokratie erfasst sind. So viel Verdruss war selten. Aber solche Momente können auch das Signal für einen Aufbruch sein. Noch viel mehr Menschen werden sich nun die Frage stellen, was ihr persönlicher Beitrag dazu sein kann, dass die schönste aller Lebensformen, die Demokratie, wieder mehr Vertrauen und Stabilität bekommt.

 

Vor sieben Jahren haben Sie ein viel gelesenes Buch mit Regeln zur Demokratie-Rettung geschrieben. Nun haben Sie ein zweites Buch zu diesem Thema geschrieben: „Erste Hilfe für Demokratie-Retter“. Was unterscheidet 2017 von 2024, wie hat sich das Regelwerk für Demokratie-Retter geändert?

Die Wahl von Trump 2017 und die Reaktionen darauf waren der Beweggrund für mein erstes Buch. Was da in den USA passierte, war ein Bedrohungsszenario für alle westlichen Demokratien. Und tatsächlich hat sich nach 2017 diese bedrohliche Entwicklung für die Demokratie weiter verstärkt: Ein gegen demokratische Werte gerichteter Populismus hat sich weltweit durchgesetzt und gehört heute zur politischen Normalität. Der Anlass für das neue Buch kam aber diesmal aus der entgegengesetzten Ecke: Die großen Demonstrationen im Frühjahr gegen Demokratiefeindlichkeit und Rechtsextremismus waren für mich der Impuls zu überlegen: Was passiert nach den Demonstrationen, wie können wir diese Energie, dieses Engagement verstetigen?

 

Und wie ist Ihre Antwort – wie verstetigen wir das?

Bevor wir da über langfristig gedachte Möglichkeiten reden, müssen wir zunächst den Ernst der aktuellen Lage erkennen und darauf reagieren. Kurzfristig müssen wir die Fundamente der Demokratie so stark machen, dass die Feinde der Demokratie das Haus nicht zum Einsturz bringen können.

Wenn sich die Entwicklung der letzten Jahre verstetigt, besteht die reale Gefahr, dass künftig Demokratiefeinde bei uns Schlüsselpositionen in staatlichen Institutionen besetzen, die Unabhängigkeit der Justiz untergraben, Schutz von Minderheitenrechten aushebeln, die Medienfreiheit einschränken, und grundsätzlich den politischen Diskurs weiter radikalisieren. Das sind erhebliche Risiken für unser demokratisches Fundament, die wir nicht auf die leichte Schulter nehmen sollten.

 

Sie sprechen von „Feinden der Demokratie“ – wann wird aus einem Menschen ein politischer Feind?

Politische Gegner haben unterschiedliche Meinungen – das ist völlig in Ordnung. Aus Gegnerschaft wird dann Feindschaft, wenn es nur noch um persönliche Attacken und Diffamierung geht. Wenn also die Sachthemen nur noch die Hülle sind, um Feindbilder von einzelnen Personen oder Gruppen zu zeichnen. Feinde der Demokratie schüren bewusst Hass gegen Menschen. Konkret gilt meine Definition von Demokratiefeinden für viele AfD-Politiker, aber nur für eine Minderheit unter den AfD-Wählern. Mit Feinden kann man nicht reden.  Mit Gegnern sollte man aber unbedingt reden.

 

Sie selbst moderieren seit vielen Jahren Gespräche im Radio und haben viele hundert Gespräche mit den unterschiedlichsten Menschen und live dazugeschalteten Zuhörern geführt. Mit diesem Erfahrungsschatz – wie kommen wir in den festgefahrenen Debatten unserer Zeit noch an unsere politischen Gegner ran?

Im Kern geht darum andere Standpunkte zuzulassen. Das Format, das ich betreue – „Das philosophische Radio“ auf WDR5 – ist nicht darauf ausgelegt, politische Gegner zusammenzuführen. Aber unser Format schafft eine Sache, die uns in der öffentlichen Debatte zu oft abhandenkommt:  Es werden Fragen gestellt, es wird zugehört, es werden unterschiedliche Standpunkte ausgetauscht. Andere Standpunkte aus anderen Lebenswelten sind wichtig, um die Welt besser zu verstehen, um Verbindungen zu schaffen. Feste Standpunkte möglichst zu vermeiden, Standpunkte flüssiger zu machen – darum geht es in diesem Format. Das ist so ziemlich das Gegenteil vom vorherrschenden Diskurs, der meist darauf abzielt, die eigene Meinung als „richtig“ zu verkaufen. Damit werden Gegnerschaften zementiert oder verstärkt, statt Verbindungen zwischen Menschen aufzubauen. Ein Blick in die USA zeigt, was passiert, wenn die Brücken zwischen den politischen Lagern abgebaut werden: Die Lager igeln sich ein, Menschen innerhalb eines Lagers bestätigen sich in ihren festen Meinungen. Politische Gegner sprechen nicht mehr miteinander, nur noch übereinander.

 

Sie sprachen auch von den langfristig gedachten Möglichkeiten zur Demokratiestärkung. Was können wir tun, um unsere Demokratie nachhaltig sturmfest zu machen?

Im Kern geht es darum, Menschen darauf Lust zu machen, in den Maschinenraum der Demokratie zu gehen und sich aktiv zu beteiligen. Das klingt zunächst wie ein Widerspruch: „Maschinenraum“ hört sich eher nach Last an, nicht nach Lust. Aber für viele Menschen bringt es eine enorme persönliche Bereicherung, wenn sie im Gemeinwesen aktiv werden und dort ihre Talente einbringen. Das kann auch ein kleines, überschaubares Projekt im Lokalen sein.

 

Wenn ich mich in meinem Heimatort im Sinne der Gemeinschaft einbringe, bin ich schon ein Demokratie-Retter?

Unbedingt – in dem Sinne, dass man so Teil eines lokalen verbindenden Netzwerkes wird und sich am demokratischen Gemeinwesen beteiligt. Wenn sich jeder fragt: Was würdest du dir in deiner Stadt anders wünschen, was sollte sich verändern – dann würde doch jedem etwas einfallen. Aus einem hässlichen Gebäude einen schönen Ort der Begegnung zu gestalten, beispielsweise. So ein konkretes Projekt kann der Startpunkt sein, denn aktive Beteiligung in der Zivilgesellschaft ist auch eine kommunizierende Röhre in die Politik hinein. Das hat immer eine Wirkung, zumal es auch eine Drift gibt aus zivilgesellschaftlichen Initiativen heraus in die demokratische Politik hinein. Für nicht wenige Menschen ist das Ehrenamt ein Sprungbrett in die Politik, oft zusammen als Team von Gleichgesinnten.

 

Demokratie klingt groß, wir als aktive Individuen im Lokalen sehen daneben so klein aus. Wie lässt sich der vermeintliche Widerspruch auflösen?

Grundsätzlich ist Mitgestaltung – neben der Akzeptanz von Repräsentation – die wesentliche Säule von Demokratie. Und diese Mitgestaltung findet ihren Anfang meist in der lokalen Umgebung, denn dort können wir uns im ersten Schritt am besten einbringen. Da kommen Menschen zusammen, schaffen Begegnungsräume, arbeiten an einem gemeinsamen Ziel. Runter von der Couch, rein ins Tun, in den sozialen Austausch. Umgekehrt gilt: Wenn eine Mehrheit sich faul – zuweilen auch feige – im passiven Wegducken übt, ist das womöglich das größte Risiko für unsere freiheitliche Gesellschaft überhaupt.